VERMESSUNG DES KOLONIALISMUS IN DER PROVINZ

Freiburg und der Kolonialismus

Workshop mit Bernd-Stefan Grewe und Heiko Wegmann am 16.2., 9-11 Uhr

Was hat denn Kolonialismus mit Freiburg zu tun? Etwas abgelegen im Südwesten mag es innerhalb Deutschlands ja liegen, aber eine Kolonie? Oder umgekehrt, gar eine ‚Kolonialmacht‘? Das Thema scheint zunächst vielleicht etwas fragwürdig. Diese Fragwürdigkeit nahmen die Workshop-Leiter Bernd-Stefan Grewe und Heiko Wegmann vorweg und stiegen mit einem anschaulichen Antwort-Beispiel in ihren Vortrag ein: Bis vor Kurzem stand in Herdern das ehemalige „Wirtshaus zu Amerika“, das 1777 erbaut wurde.(1) Der Auftraggeber Johann Baptist Messy hatte es finanziert durch seine Tätigkeit in Surinam in Südamerika als Aufseher auf den dortigen Zuckerrohr-Plantagen, das heißt als Sklavenaufseher. Die dortigen Bedingungen wurden schon von Zeitgenoss*innen als unmenschlich kritisiert, die Lebenserwartung neuer Sklaven lag bei nur sieben Jahren. Das dadurch finanzierte Gebäude überdauerte mehr als 300 Jahre.
Mit ihrem Buch „Freiburg und der Kolonialismus“ wollen Grewe, Wegmann und ihre Co-Autor*innen das Thema im Rahmen der Stadtgeschichte 2018 zum ersten Mal (!) kritisch thematisieren. Im Workshop skizzierten sie ihre Herangehensweise: Historisch untersucht werden Verbindungen verschiedener gesellschaftlicher Milieus mit dem Projekt ‚Kolonialismus‘. Dieses wollen sie nicht nur, wie ‚klassisch‘ üblich, als Geflecht von formalen Herrschafts-Verträgen zwischen Kolonialmächten und Kolonien begreifen. Stattdessen verstehen sie Kolonialismus als mentale Struktur und politische Ideologie, die mit dem formalen Verlust deutscher Kolonien 1919 nicht einfach abbricht. Die untersuchten Verbindungen betreffen damit gleichermaßen persönliche Verflechtungen Einzelner (z.B. als Missions-Schwester oder Kolonialsoldat), formale Verbindungen von Institutionen und politische Positionierungen in Vorträgen, Festen oder Erklärungen. Solche gab es Anfang des 20. Jahrhunderts in Freiburg nicht wenige, und wohl jede*r Freiburger*in dürfte damals jemanden gekannt haben, der*die selbst direkte Verbindungen zu Kolonien hatte.
Dazu wurde im Workshop die damals weit verbreitete, exotistische Massenkultur erläutert, z.B. sogenannte ‚Völkerschauen‘.(2) Bei diesen wurden Einzelpersonen oder Gruppen aus Kolonialgebieten an der Messe oder im Zoo ausgestellt, teils formal freiwillig, teils als Sklaven. Unter Titeln wie ‚Die Singalesen-Karawane‘, ‚Die Kongo-Neger‘ oder ‚Das Afrikaner-Dorf‘ wurden Visionen des ‚Exotischen‘, ‚Wilden‘ und ‚Unzivilisierten‘ konstruiert, meist mit (pseudo-)wissenschaftlichem Anstrich und ‚authentisch‘ im Stil von populären Projektionen wie Karl Mays „Winnetou“ verkleidet. Dazu kam bald das Kino, dessen Produktionen wir ja noch heute konsumieren.(3)
In ihrem Buch kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Anfang des 20. Jahrhunderts kolonialistisches Denken in der Freiburger Stadtgesellschaft weit verbreitet war. Die exotistische Massenkultur wurde mit großem Interesse verfolgt, und die vermeintliche europäische / deutsche Überlegenheit gegenüber ‚unzivilisierten Völkern‘ wurde von vielen Seiten reproduziert. Bis heute wurde dieser Aspekt der Stadtgeschichte kaum aufgearbeitet. Mit ihrem Buch wird ein Überblick möglich, aber es bleiben viele Lücken, u.a. zur Verwicklung von öffentlichen Institutionen wie den Freiburger Museen oder der Universität. Im Schulunterricht ist das Thema dazu kaum behandelt. Hoffnung auf eine weitere Thematisierung macht das baldige Stadtjubiläum 2020, wo einiges für ein breiteres Publikum präsentiert werden könnte. Und Hoffnung überdauert ja bekanntlich am längsten.

Das Buch „Freiburg und der Kolonialismus. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus“ findet ihr hier bei der Jos Fritz Buchhandlung. Weitere Informationen zum Buch und zum Themenkomplex gibt es hier bei Freiburg Postkolonial.

Fußnoten:
(1) Vgl. zum "Wirtshaus zu Amerika" auch folgende Artikel der Badischen Zeitung: "Vier Häuser voller Geschichten" und "Wirtshaus zu Amerika soll abgerissen werden", beide vom 2.4.2014 .
Vgl. für weitere Orte auch die interaktive Karte von Freiburg Postkolonial.
(2) Vgl. Manuel Armbruster: "'Völkerschauen'um 1900 in Freiburg i. Br."
(3) Vgl. weitere Informationen zu Kolonialismus in Filmen bei Freiburg Postkolonial; außerdem Tobias Nagl: "Fantasien in Schwarzweiß".

Sebastian A. Höpfl